Immer wieder kam irgendwer von auswärts, von den Ortsnamen angelockt, Sorge und Elend, und das verspürte zwanghafte Bedürfnis, etwas daraus zu machen, meist waren es Witze, auf wessen Kosten? 1991 war ich das erste Mal hier unterwegs, eine Harzquerbahnfahrt mit westdeutschen Bekannten, sie ließen sich mit den Ortschildern fotografieren, mir war das unangenehm, ihnen vielleicht auch, aber schließlich kommt man deshalb hierher, verbringt ein halbes Stündchen, kauft mit einem diffusen Gefühl der Unzufriedenheit oder Schuld eine Postkarte oder ein Fläschchen Kräuterschnaps, um etwas für die flaue örtliche Wirtschaft getan zu haben, so ist es gedacht, der Kalauer ist der Sinn des Ortes, schließlich war das schon zu Ostzeiten so und der Sinn war subversiv …
Wo ist der Sozialismus zu Hause? – Zwischen Elend und Sorge.
Der XI. Parteitag wurde kurzfristig von Berlin in den Harz verlegt – in die Gegend zwischen Sorge und Elend.
… Witze auf eigene Kosten oder auf Kosten derer da oben, weshalb auch wir ruhig kalauern dürfen, um die Tradition hochzuhalten.
Und man fährt weiter. Oder denkt weiter darüber nach, Sorge und Elend, man will etwas daraus machen, das stellt doch etwas dar, ein ganz bestimmtes historisches Schicksal, eine ganz bestimmte Melancholie. Eigentlich, heißt es in den Touristeninfos vor Ort, bezeichnen die Ortsnamen nicht etwa die ärmlichen Verhältnisse abgelegener Bergdörfer, sondern die schon seit dem Mittelalter bestehende Grenzlage. Elend, das kommt von eli lenti, fremdes Land, Sorge bedeutet so viel wie Zarge, Rand, da gibt Grimms Wörterbuch Recht: da zorge vorkommt, könnte der obersächsische ortsname Sorge […] aus zarge umkreis, bezirk einer ortsanlage stammen. (Zorge kommt auch hier vor, kaum 15 km von Sorge entfernt bei Walkenried in Niedersachsen, eine Spiegelung über die alte Grenze hinweg.)
Im Harz liefen die Grenzen schon immer kreuz und quer, Machtbereiche verschiedenster Stämme, Königreiche, Klöster, Fürstentümer, Herzogtümer, Gaue. Mundartgrenzen (die Appel-Apfel-Linie), die wiederum zu Missverständnissen oder Namensumdeutungen führten.[1]
Der Grenzbezug dieser Namen scheint aber auch wieder umstritten zu sein, zwei Meinungslager, die unbeirrt fortbestehen. Nach dem neusten Stand der Wissenschaft, heißt es im Netz, benennt Sorge tatsächlich die damals hier herrschenden schlimmen Verhältnisse, also: den Witzstoff. Der vor Augen führt, wie bitter Witze sind, wie sehr sie an Schmerzen rühren. Wann wird denn Elend witzig? Wenn genug Zeit vergeht? Wenn es von drüben aus betrachtet wird? Oder gerade wenn man mitten drin steckt? Liegt der Witz darin, sich zum Elend zu bekennen?
Solcher Überlegungen wohl überdrüssig, scheinen die Sorger und Elender die Version Grenze zu bevorzugen. Warum eigentlich? Ist sie etwa weniger traurig, weniger schmerzhaft? Oder ist dies eine stolzere Trauer, die Bekenntnis zu einer verzweifelten Lage, die doch auch Größe hatte, eine Grenze, die 12.000 km durch Europa reichte, oder tausend Jahre in die Vergangenheit? Macht Größe alles erträglicher?
[1] „[Verschiedene Siedlungswellen im 6. Jhdt., I.F.C.] fanden ihren Niederschlag in Landschafts- und Ortsnamen, führten zum Aufeinandertreffen von Sprachdialekten, zum Austausch, aber auch zu Mißverständnissen von Wortinhalten. […] Konnte man [im mittelalterlichen Bergbau, I.F.C.] Ansprüche nicht mit Beurkundung belegen, wurde versucht, Urkunden zum eigenen Vorteil auszulegen oder gar zu fälschen. Des öfteren wurden z. B. Namen von Wasserläufen, Wegen oder kennzeichnenden Landschaftspunkten verändert oder umgedeutet. […] Erleichtert wurden solche Verfahrensweisen durch das Aufeinandertreffen verschiedener Dialekte oder die Sprachentwicklung allgemein.“ (Dieter Werner, Hg., Bergmannssagen aus dem Harz, Leipzig, 1989)