Der Brocken

Ab 13. August 1961 machte politischer Ungeist den Berg 28 Jahr für seine Bürger zum Sperrgebiet und für die Machthaber zum militärischen und geheimdienstlichen Spielplatz. Mitte November 1989, die Revolution in der DDR war bereits erfolgt, löste man dann per Verordnung zum 1. Dezember 1989 die Sperrgebiete an den innerdeutschen Grenzen auf. Am 3. Dezember stürmten Tausende aus Ost und West den Gipfel und überraschten die Grenztruppen und Horcher des Staatsicherheitsdienstes, die an ihre abgelaufene Zeit nicht glauben wollten. Traurig stimmende Fotodokumentationen vom nun wieder freien Brocken gingen um die Welt. […]

Grenze ade! – schrieben die ersten Brockenwanderer nach der Wende Anfang Dezember 1989 in den schneeverwehten Metallgitterzaun um den Brocken. Verschwinden sollte sie, diese verfluchte Grenze! Doch welche Ironie, als „Schutzstreifen“ in der DDR gegen den Freiheitswillen der Menschen angelegt, verhalf sie dem Rest bedrängter Natur für Jahre noch einmal zum Aufatmen.

(Wolfram Richter, „Der Brocken – Ein deutscher Berg“, Clausthal-Zellerfeld, 2004)

Brocken bei Sorge 0809
Kolonnenweg bei Sorge mit dem Brocken, 2009

Der alte Todesstreifen heißt nun Grünes Band, er wurde als Wander- und Radweg erhalten. Als Biotopverbund. Denn auch Pflanzen und Tiere wollen wandern. Unterwandert haben sie die Grenzanlagen längst, die Grenze damals schon umgedeutet, zweckentfremdet: als Freiraum, als offene Straße. Längst wissen sie: Die Trennung ist die Verbindung. Wo Schluss ist, geht es erst los. Die Schneise, die den Blick in die Ferne freigibt, ist betretbar. Es geht nicht nach drüben, es geht immer nur am Drüben entlang, an allen Orten vorbei, nirgendwohin, ein Weg, der nichts als ein Weg ist.

Ein beschwerlicher Weg zum Brocken hinaus, wenn ich von Ilsenburg komme und für den letzten Anstieg den Kolonnenweg einschlage, den alten Plattenweg der Grenzfahrzeuge, der sich da mit verführerischer Klarheit hinzieht. Betretbar, aber nicht menschengemäß. Er ist für Krads und LKWs gedacht, nicht für mich. Die Steigung ist zu steil. Die Platten sehen so eben und solide aus, aber meine Füße rutschen genau in die Löcher. Die Sonne knallt.

Flucht längs eines seitlichen Pfads. Durch Fichtenzweige auswärtsspähend: direkt gegenüber ein Berg. Ziemlich flach im Verlauf, so daß wohl am Brocken vor allem der Name brockenhaft war. Und dieser Brocken höchstens durch die Langsamkeit seines Aufstiegs an Bedeutung gewann und durch die Stetigkeit des Übersteigens den Anschein von Mühelosigkeit, ja Auserwähltheit und Kraft, zumal er ja nun wirklich hier der höchste war und symmetrisch in sich ruhend sogar etwas Majestätisches hatte mit seinem Talent zur Wolkenversammlung. Darum also hatte sich Goethe im Winter des Jahres 1777 im Brocken selber erkannt. Und ihn persönlich bestiegen, so daß er, ihn besteigend, sich selbst überstieg. „Denkhaupt der Deutschen“, sprach ich. „Der du mit deinem Verstand die Kollegen wässerst, wässere auch mich.“

(Thomas Rosenlöcher, „Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise“, Frankfurt/Main, 1991)

Ich quäle mich mit einem Berg ab, der nicht einmal ein richtiger Berg ist. Kein Hochgebirge. Kein mountain. Ein sehr großer hill. In Deutschland heißt jeder große Hügel Berg. (Die Inder dagegen sagen zur Himalaja the hills).

In Deutschland steht auf jedem Berg eine Gaststätte. So dass jeder Weg ein Ziel hat. Kann man zumindest so empfinden, wenn man da oben sein wohlverdientes Bier trinkt.

Brocken Grenzstreifen Hohegeiss 0716
Brocken vom Grenzstreifen zwischen Hohegeiß (Niedersachsen) und Sorge, 2016

Falsch stellte er sich auch den höchsten Berg des Gebirges vor. Das war der Brocken. Auf den Brocken durfte niemand hinauf, außer den Russen und den Grenzsoldaten und zwei Männern, die dort als Wetterwarte arbeiteten. Genau über den Brocken verlief die Grenze. No dachte, der Brocken wäre ein spitzer Kegel, der nur über lange kahle Hänge zu erreichen wäre.

Er lief die Hänge hinauf. Er träumte das nicht, er tat das wirklich. Er lief einen Pfad entlang, der an weißen Felsen vorbeiführte, die flach aus dem Gras guckten. Meist sah er die Spitze des Berges. Dann endete der Pfad, die Hänge wurden steiler, fast senkrecht. Als er die Spitze des Berges erreicht hatte, war es ihm, als drehte der Berg sich. Er stand wieder im Tal und blickte wieder den Berg hinauf. Er spürte den Wind, der kräftig blies.

(Christoph D. Brumme, „Nichts als das“, Berlin, 1994)

Kein richtiger Berg, sage ich. Worin liegt dann seine Anziehungskraft? Ist das die Schwerkraft, die in seiner schieren schlichten Masse steckt? In all der verschwundenen Masse des uralten, abgetragenen Gebirges? Umso spürbarer ob der Unschärfe, der Berg wölbt sich kaum stärker als die Erdkrümmung, die scharfe weiße Spitze, die das Auge sucht, bleibt unsichtbar.

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Blick vom Brocken, 2014. (Foto: Theron Cole)

So weit das Auge reichte, dehnte sich weiß und milchig und eben, mit Wellen und Untiefen und Inseln, ein ungeheures Wolkenmeer, reichend von Horizont zu Horizont, überspannt von wirklich tief azurnem Himmel. Die nächsten Kuppen nur ragten aus dieser bewegungslosen Weite hervor: Wurmberg, Königsberg, der seltsam kahlkeglige Achtermann, nach Norden der langgestreckte Renneckenbergrücken mit den wuchtigen Zeterklippen und dem toten Wald davor, manches versank überschleiert im Dunst, in der Tiefe. […]

Wenn man mit der Hand die Augen abschirmte, erglänzte der Himmel in der Farbe gotischer Altarbilder. Dort im Süden, unter eben diesem tiefblauen Himmel mit Gold und Kupfer und Lapislazuli, dort mußte, wenn man über die Wolken immer und immer fortflöge, Italien liegen, schimmernde Tempel, Marmorbilder, Orangenhaine …

(Bernd Wolff, „Winterströme. Goethes Harzreise 1777″, Berlin 1986)

Wenn ich den Brocken erblicke, von Wernigerode oder von der Lindewarte aus, ist das Gebirge erst als Gebirge zu spüren, scheinen all diese Hügel höher zu steigen, massiger sich aufzutürmen, weiter, als ich sehen kann: als wäre dies nur Vorgebirge, als wäre gleich zu erkennen, dass die dahinter schwebenden Formen, die ich für Wolken hielt, das eigentliche Gebirge sind, gleich sehe ich die Gipfel der Alpen.

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Alpenblick vom Bachtel am Zürchersee, 2015