In den 1990ern, auf Wanderurlaub im Harz, stieß ich in einem im Pensionszimmer ausgelegten DDR-Reiseführer auf die Behauptung, im Harz würden noch Reste des herzynischen Urwaldes existieren, der zu Tacitusʼ Zeiten ganz Mitteleuropa bedeckte. Diese steile Behauptung habe ich seitdem in keiner modernen Quelle wiedergefunden, vielleicht habe ich mich damals verlesen, mir den Satz nur eingebildet, aber er bedeutete den Anfang einer Suche, deren Ergebnis kein Wald war, auch kein verborgener Hain in irgendeinem Seitental, nicht einmal eine einzelne uralte Buche, sondern die Erkenntnis, dass es den Wald längst nicht mehr gibt, dass, wenn es ihn noch gäbe, der Harz der allerunwahrscheinlichste Ort dafür wäre, denn hier war der Wald schon im Mittelalter abgeholzt, die Landschaft durch Bergbau und Hüttenwesen verwüstet.
Aber auch, dass es den Wald nicht gibt und nicht geben kann, die Vorsilbe Ur– bezeichnet gerade das Sich-Wandelnde und längst Verwandelte, der Wald besteht in verschiedenen Formen immer fort. Der realexistierende Harzer Nadelwald ist Forst, Plantage, Monokultur, mit dem Klimawandel grassiert hier der Käfer. Im Nationalpark Harz pflanzt man wieder Buchen an, der ursprüngliche Baumbestand, der Mischwald, ist bei steigenden Temperaturen stabiler. Der anthropogene Urwald bietet hier dem Anthropozän die Stirn.Nation
Der Wald besteht als Möglichkeit überall, in meinen Balkonkästen säen sich die Straßenbäume aus. Man müsste sie nur machen lassen.